Erster Eindruck

Ich glaube, ich hab meinen Chef heute ein wenig beeindruckt. Er hatte wohl sowas in der Art erwartet, da er immer wieder mal Andeutungen fallen ließ, was er sich durch meine Einstellung erhofft, aber dass es so schnell so konkret wird, hat ihn ein wenig überrascht.

Zum Verständnis muss ich an dieser Stelle einfügen, dass ich ITIL v3 Expert zertifiziert bin. Die Zertifizierung ist das Höchste, was derzeit auf diesem Gebiet verfügbar ist. ITIL ist eine Sammlung von bewährten Strategien und Technicken um (IT-)Dienstleistungen/Services am besten an den Kunden zu bringen. Mein Chef vertritt die Ansicht, dass wenn man ITIL in dem Unternehmen einführen wöllte, müsste man eine Armee an zertifizierten Mitarbeitern (um die 60) beschäftigen bzw. einkaufen, um das einigermaßen zeitnah umsetzen zu können.

Ich seh das ein wenig anders, denn ITIL  zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es eben nicht diese Riesenumstrukturierungen braucht, sondern dass einzelne Prozesse angepasst und optimiert werden und diese Verfahrensbibliothek lediglich  praxisnahe Beispiele gibt, wie man das am Besten macht.

Wieauchimmer, mein Chef schleppte mich heute zum IT-Mail-Support und der jammerte bitterlich über die Flut der Aufgaben und das alles einfach nur per Zuruf erledigt werden soll und wenn etwas schief geht, sind sie trotzdem dran, egal wie schnell sie waren oder wie viel Mühe sie sich gegeben haben.

Bei mir schrillten sofort sämtliche Alarmglocken. Falsche Schuldzuweisung sind immer ein Zeichen mangelnder Dokumentation. „Per Zuruf“ deutet auf fehlende Standards und Prozesse hin. Jammernde Mitarbeiter auf Überlastung bzw. Demotivation.

Sobald wir aus dem Hotliner-Raum raus waren, meinte ich zu meinem Chef, dass hier ganz dringend ein funktionierendes Change Management eingeführt werden muss. Es müssen standardisierte Vorgänge her, damit eben nicht „auf Zuruf“ agiert werden muss und dass die Schuld eben nicht an den Supportern hängen bleibt, wenn der Vorstand eine Entscheidung treffen muss und sich dafür 3 Wochen Zeit lässt. Oder weil durch so eine ad-hoc-Anweisung mögliche negative Auswirkungen nicht eingeschätzt werden können und dann knallt es und natürlich war es – mal wieder – die IT.

Ich bot an, dass ich mich mit den Jungs zusammensetze, die klagen mir 1 oder 2 Stunden lang ihr Leid, ich meisel alles mit und am Ende kommt eine Handlungsanweisung und ein Formular (oder mehrere) raus und an die müssen sich alle handeln. Schafft unseren Jungs Luft und sichert sie ab.

Ein wenig hatte ich den Eindruck, dass mein Chef am liebsten aufgesprungen, um den Schreibtisch herum gelaufen und vor mir auf die Knie gefallen wäre, um mir zuzurufen: „Und genau aus diesem Grund wollte ich dich haben!“ 😉

Fazit: Ich renne offene Türen ein, solange ich es nicht „ITIL-Kompletteinführung“ nenne. Ich halte den „Big-Bang-Ansatz“ (der heißt wirklich so) eh für den ungünstigsten Ansatz und bin der Meinung, dass die Anpassung einzelner Prozesse wesentlich mehr Erfolg verspricht. Die meisten Unternehmen haben doch gelebte und funktionierende Prozesse und sich jetzt da hinzustellen und zu sagen: „ey, dass was ihr macht ist totaler Quark, wir machen das jetzt so!“ empfinde ich als Schlag ins Gesicht der Mitarbeiter, die jeden Tag ihr Bestes geben.

Am Montag werde ich also meine dicken ITIL-Bücher mit auf Arbeit schleppen, diese durchforsten, was da nun genau empfohlen wird und mich dann mit den Kollegen hinsetzen und alle ihre Anforderungen aufnehmen. Und dass dann in Dokumente, Formulare und Handlungsanweisungen zu gießen wird mich locker bis zum ersten Advent beschäftigen.

Ich finde das cool. Ich wollte immer schon mal irgendwo entscheidend ITIL einführen bzw. die Prozesse entsprechend anpassen. Aber entweder haben die Großkopferlten das Konzept dahinter nicht so wirklich verstanden (vorletzter Arbeitgeber) oder das Thema war schon recht komplett umgesetzt und gelebt (letzter Arbeitgeber). Hier also mehr oder weniger grüne Wiese, ein Chef, der die ganze Sache unterstützt und ein Team, welches über jede Entlastung dankbar ist.

Ganz ehrlich, ich habe mich die letzten beiden Tage mehrmals gefragt, wie die bisher überhaupt überleben konnten. Da ist so viel Potential vorhanden, das ist einfach unglaublich. Vermutlich/wahrscheinlich liegt es wie so oft daran, dass schlicht keine Zeit übrig ist, um sich um die organisatorisch-administrativen Dinge wie eine Handlungsanweisung oder die Erstellung eines simplen Formulars zu kümmern. Und es ist schwierig gegen das „haben wir schon immer so gemacht“ anzukämpfen. Wobei ich den Begriff „Betriebsblindheit“ sympathischer finde.

Bloß gut, dass sie mich jetzt haben 😀

3 Kommentare zu “Erster Eindruck

  1. Witzig, bei mir ist es gerade ähnlich. Nur, dass ich zusätzlich zum „wir führen hier mal neue Prozesse ein“ leider noch einen Haufen ’normale‘ Arbeit habe und es deshalb sehr langsam voran geht. Schön, dass du dich da austoben kannst!

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  2. stahldame sagt:

    … und ganz nebenbei beachtest du automatisch noch Grundregel Nr. 1: wenn Veränderung, dann MIT denen, die sie leben müssen und nicht einfach per Order von oben. Die Regel lernen manche QM-Typen in hundert Jahren nicht. So kann das doch gar nicht schiefgehen 😉

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  3. Mama-I sagt:

    Ich versteh zwar kein Wort, aber das macht nichts 😆. Ich glaub der Job ist doch gar nicht so schlecht für Dich, da hast Du wohl gefehlt. Ich freu mich, dass Du endlich wieder Anerkennung durch einen Job bekommst!

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