De mortuis nihil nisi bene

Gestern war die Beerdigung meines Schwiegervaters.

Ich hatte mir extra einen halben Tag frei genommen, ein paar meiner Überstunden abgebaut. Tatsächlich Urlaub opfern wollte ich nicht. Trotzdem wollte ich unbedingt wissen, wer alles zur Trauerfeier erscheint und was dabei gesagt wird.

Es waren überraschend viele Trauergäste zur Feier erschienen. Ein wenig verlegen standen sie in der strahlenden Sonne, während Anna mit der Trauerrednerin letzte Details zur Rede besprach. Mein Mann war entsetzt, dass seine Mutter mittlerweile im Rollstuhl sitzt. Aus der Nähe sahen wir, dass seine Mama so ausgemergelt war, dass sie kaum aufrecht im Rollstuhl sitzen konnte.

Wir begrüßten den bekannten Familienteil und ließen uns dann die unbekannten Gäste vorstellen. Vom Pflegedienst des betreuten Wohnens, wo meine Schwiegereltern zuletzt gelebt hatten, waren 4 Mitarbeiter erschienen. Dazu ein alter Arbeitskollege des Verstorbenen und ein befreundetes Ehepaar. Insgesamt waren es um die 20 Personen.

Die Trauerfeier begann mit einem Lied, welches passender kaum hätte sein können: „Hells Bells“ von AC/DC. Vermutlich war dem Verstorbenen der eigentliche Inhalt des Liedes nicht bekannt, denn sonst hätte er vielleicht einen anderen Titel gewählt. So aber konnte ich mir ein innerliches diabolisches Grinsen nicht verkneifen.

Die Trauerrednerin begann den Nachruf mit dem Ziel, das Leben zu feiern, anstatt in tiefster Trauer zu versinken. An sich gefällt mir dieser Ansatz, gerade bei eher älteren Menschen, doch war die Rednerin für meinen Geschmack zu überdreht. Ein wenig mehr Zurückhaltung hätte ich für angemessener gehalten.

Die Rednerin beschrieb als erstes die menschlichen Seiten: humorvoll, witzig, gesellig. Er war ein lebenslustiger, unterhaltsamer Mensch, der viel unternahm und bis fast zum Schluss aufopferungsvoll seine Frau pflegte. Ich staunte ein wenig, kannte ihn aber auch nur die letzten 10 Jahre und habe ihn dort ganz anders erlebt. Auch die Erzählungen meines Mannes über seine Erlebnisse hatten mir ein anderes Bild vermittelt.

Im Nachruf wurde auf die Kindheit eingegangen, dass der Verstorbene in einer eher ländlichen Gegend aufgewachsen ist und als Kind viel Unsinn angestellt hatte und nicht der Geschickteste war. So hatte er als Kind seinem Teddy die Welt durchs Fenster zeigen wollen und dabei die Fensterscheibe eingedrückt. Was als lustige Anekdote gedacht wurde, hinterließ bei meinem Mann und mir einen sehr faden Beigeschmack, denn wir wussten, dass die Großeltern (also die Eltern des Vaters) sehr strenge Menschen waren, die wenig Nachsicht kannten und dem Kind vermutlich mit einer Eisenbahnerkoppel massiv den Hintern versohlt hatten ob dieser Untat.

Nach einer weiteren Anekdote folgte die Überleitung ins Berufsleben. Schule, Ausbildung bei der Post, jahrelange Tätigkeit als Zusteller, Wechsel als Heizer, später Hausmeister beim örtlichen Zeitungsverlag. Ein schwerer Arbeitsunfall, unverschuldet und zudem vermeidbar. Bevor die nicht zu überhörende Verbitterung über diese Ungerechtigkeiten überhand nehmen konnte, wurde das zweite Lied gespielt: Johnny Hill mit „Ruf Teddybär 1-4“, weil die musikalischen Vorlieben des Verstorbenen sehr breit gefächert waren.

Der sich nun anschließende Teil mit dem Familienleben ist mir noch fast wortwörtlich in Erinnerung, wohl auch, weil mich dieser Abschnitt oder besser gesagt die Verpackung dieses Abschnitts am meisten interessierte.

Bei seiner Tätigkeit bei der Post lernte er seine Frau kennen, die ebenfalls dort arbeitete. Sie verliebten sich ineinander und heirateten am 22. April 1972. Das Familienleben gestaltete sich intensiv.

Ein spannender Euphemismus, der unglaublich viel Interpretationsspielraum lässt. Es wurde mit keinem Wort darauf eingegangen, wie die Familie sich ursprünglich zusammen setzte, dass die Ehefrau bereits 4 Kinder hatte und dass als einziges leibliches Kind 1973 mein Mann folgte. Von den insgesamt 5 Kindern wurden überhaupt nur 3 erwähnt, die 2 älteren Mädchen fielen komplett unter den Tisch. Auch schien es niemanden zu stören, dass immer wieder Boris zwar erwähnt wurde, aber er selbst und der gesamte Familienzweig nicht bei der Trauerfeier anwesend war.

Stattdessen wurde von den vielen Reisen berichtet, die das Paar unternommen hatte, die letzte größere nach Südtirol zu den Kastelruther Spatzen, die sie dort auch leibhaftig getroffen hatten. Denn dies war eine große gemeinsame Leidenschaft und sie besuchten mindestens ein Spatzenkonzert in der Heimatstadt, wusste die Rednerin zu berichten.

Als letzter musikalischer Beitrag folgte daher ein Lied von Andreas Gabalier „Amoi seg‘ ma uns wieder“. Mitte der zweiten Strophe wurde die Urne auf einen Katafalk gesetzt und die Trauergemeinschaft lief der Urne hinterher zum Grab.

An der letzten Ruhestädte angekommen, wurde die Urne ins Grab eingelassen und jeder Anwesende durfte in Ruhe Abschied nehmen und eine handvoll Blütenblätter auf die Urne streuen. Ich dankte meinem Schwiegervater für meinen Mann und wünschte ihm, dass er eine gerechte Strafe für seine Taten im Leben erhalten möge.

Da kein Leichenschmaus oder eine andere gemeinsame Aktion im Anschluss an die Beerdigung geplant war, verabschiedeten wir uns relativ schnell und fuhren nach Hause. Im Auto unterhielten wir uns über die Rede und mein Mann, der gerade eben seinen Vater beerdigt hatte, meinte, dass der Großteil des Gesagten schlicht lächerlich war.

Gesellig mag ja stimmen, aber stand wohl wie in einem Arbeitszeugnis als Code für Alkoholismus. Als unternehmenslustig kannte er seinen Vater ebenso wenig, ich selbst hatte ihn nur als phlegmatisch in seinem vollgequaltem Zimmer vor dem Computer hockend erlebt. Meinen Mann ärgerte die Beschreibung der Familie und des Familienlebens. Entweder lässt man alle „unerwünschten“ Kinder weg oder zählt alle auf.

Was meinen Mann verwunderte war, wie sehr die Trauerfeier seine Schwester und Nichten und Neffen mitnahm. Wir waren uns einig, dass Anna komplett stockholmisiert war und die Enkel die wahren Hintergründe nicht kannten und so wirklich und wahrhaftig um ihren Opa trauern konnten. Genauso wie die 4 Mitarbeiter des Pflegedienstes, die vermutlich nur den eingangs beschriebenen Menschen kannten, dem im Alter die Kraft zum Rassismus und zu bösartigen Scherzen fehlte und der vermutlich erkannte, dass es unklug wäre, Menschen, auf die er dringend angewiesen ist, zu vergrätzen.

Als wir die Geschichte mit den Kastelruther Spatzen besprachen, meinte mein Mann, dass sein Vater die gehasst hätte wie sonst was. Ich meinte daraufhin, dass sie doch aber beim Konzert und sogar in Südtirol waren, worauf mein Mann erwiderte, dass er das nur seiner Frau zuliebe gemacht hätte und er Volksmusik nicht ausstehen konnte.
Entweder war das seiner Schwester komplett entgangen oder es war ihre kleine, persönliche Rache, sozusagen ein finaler ausgestreckter Mittelfinger in Richtung ihres Peinigers.

Immer noch im Auto sitzend, rief mein Mann dann seinen Bruder Boris an, um ihm von der Beerdigung zu erzählen. Ihm war nämlich von Anna verboten wurden, Boris eher etwas zu sagen, weil sie unbedingt vermeiden wollte, dass er bei der Trauerfeier auftaucht, denn dies war der ausdrücklichste Wunsch des Verstorbenen.

Boris war stinksauer. Er wäre eh nicht gekommen, hätte doch aber schon gerne wenigstens vom Tod gewusst, denn vor drei Wochen hatte er seine Mutter besucht und sie nach seinem Stiefvater gefragt, obwohl dieser da schon eine Woche tot war. Dieses riesige Fettnäpfchen hätte er sehr gerne vermieden.

Das wiederum machte meinen Mann sauer und nach dem Telefonat tobte er rum, dass er es eh niemandem recht machen könne. Hätte er Boris informiert, wäre seine Schwester wütend gewesen, so hat er nichts gesagt und jetzt ist Boris wütend. Ich konnte förmlich den kleinen Jungen sehen, hin- und hergerissen zwischen seinen Geschwistern, ohne elterlichen Beistand und sehr sehr hilflos. Er tat mir leid, aber mehr als trösten konnte ich ihn nicht.

Diese Familie hat schon so viel ertragen und vielleicht könnte diese Beerdigung tatsächlich etwas wie ein Neuanfang sein. Jetzt, wo dieses große, alles überschattende Übel nicht mehr da ist.